Holzbau mit der Präzision eines Uhrwerks

Interview mit Taro Okabe, Fabian Scheurer und Felix Holenstein

Die digitale Transformation ist eines der Leitthemen der BAU 2021. Wie die digitale Bauzukunft aussehen kann, beschreiben wir am Beispiel des neuen Hauptsitzes des Uhrenherstellers Swatch im schweizerischen Biel. Taro Okabe (Shigeru Ban Architects), Fabian Scheurer (Design-to-Production) und Felix Holenstein (Blumer-Lehmann) erläutern im Interview die Besonderheiten des spektakulären Gebäudes und die Herausforderungen ihrer Zusammenarbeit.

© Swatch
Bei Nacht besonders beeindruckend: der neue Hauptsitz der Swatch Group in Biel

Das Interview

Der neue Hauptsitz von Swatch polarisiert mit einer freigeformten Gebäudehülle. Nicht alle in der Schweiz schätzen das, einige Kritiker brachen ob der Form in Wehklagen aus, andere hingegen freuten sich über den »japanischen Spielwitz«. Warum, Herr Okabe, entschied sich Ihr Büro für diese Formsprachen? Zwar hat Shigeru Ban beispielsweise auch beim Centre Pompidou (2007) in Metz eine spektakuläre mehrfach gekrümmte Dachkonstruktion entworfen, doch andere Bauten, etwa das Nicolas G. Hayek Center in Tokio, sind streng orthogonal.

Taro Okabe: Für die Form des Gebäudes gibt es mehrere Gründe. Erstens umfasste die Aufgabe mehrere Bauten, die wir in einem Volumen zusammengeführt haben, welches der L-Form des Grundstücks folgt. Zweitens kannte Shigeru Ban Biel bereits: Dort wurden die Mockups für die Dachkonstruktion des Centre Pompidou, die Sie eben erwähnt haben, erstellt. Als er den Bauplatz besichtigte, erinnerte er sich daran. In der Schweiz gibt es Fachleute und Firmen mit einmaligen Fähigkeiten im Bereich der Planung und Umsetzung komplexer Konstruktionen in Holz. Wir haben mit der Form des Gebäudes auf den Ort und die spezifischen Möglichkeiten, die uns die Schweiz als Gestalter bietet, reagiert.

Wir entwickeln unsere Architektur stets aus dem Kontext mit seinen spezifischen Gegebenheiten, darum ist die Formensprache unserer Bauten so unterschiedlich. Freiformen gestalten wir, wenn sie für Aufgabe und Bauplatz passend erscheinen – nicht aber, weil wir eine bestimmte ästhetische Vorliebe haben, oder eine soziokulturelle Haltung ausdrücken möchten, wie es vielleicht andere Büros tun.

Felix Holenstein: Es ist paradox: In der Schweiz sind viele Experten für die Verwirklichung von Freiformen versammelt, doch haben letztere zugleich noch wenige Fans in unserer Architekturszene. Momentan werden die meisten Projekte mit mehrfach gekrümmten Flächen, die wir weltweit umsetzen dürfen, von ausländischen Gestaltern geplant.

Fabian Scheurer: Es gibt, so denke ich, schon auch ein Interesse an Freiformen in der Schweiz. Der Punkt ist aber, dass viele Architekten diese zwar mit Rhino und Grasshopper modellieren können, aber nicht wissen, wie hernach die Ausführung funktioniert.

Wie kam es überhaupt zu Ihrer Zusammenarbeit und wie lief sie ab?

Fabian Scheurer: Wir wurden vom Büro IttenBrechbühl, Shigeru Bans lokalem Partner, hinzugezogen. Das Besondere dabei war, dass wir schon vor Ausschreibung und Vergabe in die digitale Modellierung eingestiegen sind.

Shigeru Ban und die Blumer-Lehmann AG kennen und schätzen wir schon lange. Unser erstes Projekt mit Herrn Okabes Büro war das Centre Pompidou in Metz, es wurde noch mit einem anderen Holzbauer umgesetzt. Beim Golfclubhaus in Yeoju in Südkorea (2008) haben wir dann erstmalig alle zusammengearbeitet. Wichtig zu erwähnen ist, dass bei all diesen Projekten auch das Engineering aus der Schweiz kommt: Auch bei Swatch waren Hermann Blumer und die Holzbau-Ingenieure von SJB Kempter Fitze AG Teil des eingespielten Teams.

Taro Okabe: Aus unserer Sicht waren Design-to-Production und Blumer-Lehmann wie eine starke Einheit.Wir haben Herrn Scheurer und seinem Team ein Rhino-Modell übergeben, auf Basis dessen sie ein 3D-Modell für die Produktion bei Blumer-Lehmann erarbeitet haben. Dabei musste einiges angepasst werden, vor allem die Achsen, aber trotzdem blieb die Form nahezu unverändert erhalten. Ohne diesen Zwischenschritt wäre die Umsetzung schwerlich möglich gewesen. Mich beeindruckt, wie nah das Gebäude schlussendlich an der Gestaltungsidee ist, die wir unseren Partnern übergeben haben.

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Die komplexe Holzkonstruktion wurde auf Basis eines 3D-Modells vom Schweizer Holzbau-Unternehmen Blumer-Lehmann realisiert

Welche waren die größten Herausforderungen, die gemeistert werden mussten?

Felix Holenstein: Schwierig war, die nötige Präzision zu gewährleisten. Wir mussten eine Toleranz von maximal fünf Zehntelmillimeter erreichen. Das war wichtig, weil die Knotenpunkte der Konstruktion hochkomplex sind und die über 2.800 Zwischenräume auf drei unterschiedliche Arten geschlossen wurden. Die Füllelemente sind technisch sehr aufwendig, um den hohen Anforderungen an die Isolation zu genügen, die in der Schweiz gelten. Es gibt opake, transluzente und transparente Flächen. Einige Elemente lassen sich im Brandfall zur Entrauchung öffnen, andere tragen Photovoltaikzellen. Bei den transluzenten Füllungen handelt es sich um pneumatische Kissen, die zur Wärmedämmung mit Polycarbonat-Platten versehen sind. Die transparenten Elemente bestehen aus vier Glasscheiben, zwischen die Rollos eingelassen sind. Diese Elemente werden dauerhaft belüftet, damit sich kein Kondensat bildet. Wie man sieht, hätte die kleinste Ungenauigkeit viele und große Probleme nach sich gezogen.

Ein zusätzlicher Aufwand war der Entscheid, die Haustechnikleitungen in die Tragwerksebene zu integrieren. Es mussten Fräsung an den Trägern vorgenommen werden, was die Ingenieure zwang, neue Berechnungen anzustellen. Eine praktische Herausforderung war ferner, die große Konstruktion – wir sprechen von 240 Metern Länge und 35 Metern Breite – auf der Baustelle vor der Witterung zu schützen. Wir haben das mit riesigen Planen gelöst, die extra beschafft werden mussten.

Fabian Scheurer: Neben der hohen Präzision bin ich stolz auf die geringe Fehlerquote, die wir gemeinsam erreicht haben. 75.000 Einzelteile wurden für die Gebäudehülle geplant und gefertigt. Ganze zwei vormontierte Elemente kamen falsch auf der Baustelle an. Und auch die mussten nicht weggeschmissen werden, sondern waren noch anzupassen. Das entspricht einer Fehlerquote von nur etwas über einem Promille.

Aber zurück zur Frage: Schlussendlich haben wir nicht nur das digitale Modell für die Fertigung erstellt, sondern vorher schon eine zentrale Koordinationsfunktion übernommen. Das war fordernd, aber auch wichtig, damit am Ende die verschiedenen Gewerke auf der Baustelle zusammenfinden – beziehungsweise aneinander vorbeikommen. Das wäre ohne ein zentrales digitales Referenzmodell nicht möglich gewesen.

Taro Okabe: Die Präzision war der wesentliche Grund, mit Blumer-Lehmann zu arbeiten. Es gibt international nur wenige bis gar keine Firmen, die das bei einer solch anspruchsvollen Konstruktion und Form auch schaffen.

Fabian Scheurer: Bei all dem Lob möchte ich schon auch ein klein wenig einschränken: Es mussten etwa 900 unterschiedliche Kühlpaneele geplant und montiert werden, und man hätte sehr früh definieren müssen, wer diese wo und wie genau anbringt, damit Blumer-Lehmann das in der Produktion zum Beispiel mit Markierungsbohrungen hätte berücksichtigen können. Wir haben darauf gedrängt, konnten uns aber nicht durchsetzen. Keine große Sache eigentlich, alles hat auch so funktioniert, aber doch sehr vielsagend: Die digitale Vorfertigung benötigt eine entsprechende Planung und angepasste Abläufe, was die meisten Beteiligten heute noch nicht verstanden haben; ihr Vorgehen ist oft noch stark in einer analogen Vergangenheit verhaftet.

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Ein wichtiges und in der Architektur bisweilen noch zu wenig beachtetes Thema ist die Nachhaltigkeit.

Taro Okabe: Auch diesbezüglich bietet der Holzbau Vorteile. Am Gebäude wurden 6.500 Tannen und Fichten verbaut, oder anders ausgedrückt: rund 2.000 Kubikmeter Holz. Es wurde berechnet, dass diese Menge binnen weniger Stunden in den Schweizer Wäldern nachwächst. Zudem verfügt das Gebäude über 442 Photovoltaikzellen; es bietet Velospots mit E-Ladestationen und verfügt über eine Bauteilaktivierung. Zwei ehemalige Öltanks auf dem Gelände haben wir zu Wasserspeichern umfunktioniert.

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Bei der Fertigung der freigeformten Gebäudehülle war Präzisionsarbeit gefragt

Was haben Sie aus dem Projekt lernen können, das künftig anderen Vorhaben zugutekommen wird? Und welche Entwickelung wird die Digitalisierung der Bauwirtschaft in den nächsten Jahren nehmen?

Felix Holenstein: Wir haben Neues über komplexe Formen und den Einsatz unserer CNC-Maschinen gelernt. Das hilft zum Beispiel, noch sparsamer mit unserem Rohmaterial, das übrigens zur Gänze aus der Schweiz kommt, umzugehen. Generell profitieren wir von solch anspruchsvollen Projekten enorm – auch für gewöhnlichere Vorhaben. Und das Projekt führt vor, welches konstruktive und gestalterische Potenzial Holz bietet.

Was den zweiten Teil Ihrer Frage angeht: Ich könnte mir vorstellen, langfristig wird Robotik im Holzbau zum großen Thema werden. Experimente dazu laufen ja schon vielerorts, in der Schweiz zum Beispiel am Nationalen Forschungsschwerpunkt für Digitale Fabrikation. Aktuell ist es allerdings mit den vorhandenen Roboterarmen noch nicht möglich, eine ausreichend hohe Präzision für Bauten wie in Biel sicherzustellen.

Fabian Scheurer: Wichtig ist, dass die Planung von Gebäuden sowie die Organisation und der Ablauf von Bauprozessen der bereits vorhandenen digitalen Fabrikation weiter angepasst werden. Hier bleibt viel zu tun. Das gilt nicht nur für Projekte mit spektakulären Freiformen, sondern generell. Momentan werden zumeist schlicht alte Prozesse digitalisiert. Digitale Modelle werden allzu oft einfach zur Erstellung von 2D-Planunterlagen genutzt – das ist, als würde man die Schreibmaschine durch ein Textverarbeitungsprogramm ersetzt und dann mit der Innovation wieder aufhören, bevor das World Wide Web und der Hypertext erfunden sind.

Unsere Erfahrungen aus Vorhaben wie dem Swatch-Hauptsitz bringen wir auch bei konventionelleren Projekten ein. Zum Beispiel haben wir gerade am Bau der großen Wohnanlage »Krokodil« in Winterthur mitgewirkt. Das war ein hartes Übungsfeld für uns, wir haben erneut gesehen, wie viel sich in der Planung von vorgefertigten Holzbauten noch verändern muss.

Herzlichen Dank, Herr Holenstein, Herr Okabe und Herr Scheurer, für das Gespräch.

Bewährte Partnerschaft

Der japanische Stararchitekt Shigeru Ban hat den neuen Hauptsitz von Swatch in Biel gestaltet. Um die schwungvolle Gebäudehülle in Holz zu verwirklichen, wendete er sich an zwei ihm vertraute Partner: Design-to-Production, spezialisiert auf parametrische Planung sowie das Holzbau-Unternehmen Blumer-Lehmann AG, beide aus der Schweiz.

Die Konstruktion ist ein Meilenstein für den Holzbau und zeigt, dass die digitale Vorfertigung eine auf sie abgestimmte Planung und angepasste Bauabläufe erfordert.

Veröffentlicht: April 20, 2020

Das Interview führte: Elias Baumgarten, World-Architects.com.