Bei der Entwicklung digitaler Technologien für die Architektur ist die Schweiz führend. Während eines Besuchs in den Labors des Nationalen Forschungsschwerpunkts Digitale Fabrikation in Zürich habe ich mir von Geschäftsführer Dr. Russell Loveridge zeigen lassen, woran dort aktuell gearbeitet wird.
Die Digitalisierung der Bauwirtschaft ist ein langsamer Prozess: über drei Dekaden schon wird an ihr gearbeitet. Was nur zaghaft begann, hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Als ich anfangs der 2010er-Jahre in Österreich studierte, stand parametrisches Entwerfen bereits in jedem Entwurfskurs auf dem Lehrplan. Formen wurden nicht wie bisher üblich gezeichnet, sondern programmiert. Gleich im ersten Semester lernten wir den Umgang mit Rhino; man zeigte uns, wie man skriptet, Plug-ins verwendet und neue programmiert. Triebfeder dahinter war der Wunsch, diskontinuierlich neue Formen zu schaffen – in Anknüpfung an Österreichs Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre. Doch ging es an die Umsetzung entsprechender Bauten, wurde es damals noch rasch knifflig. Die Stahlkonstruktion des freigeformten Dachs der Martin-Luther-Kirche in Hainburg von Coop Himmelb(l)au etwa, eine Plated Structure aus Stahlblech, musste in einer deutschen Werft gefertigt werden – bauphysikalische Probleme inbegriffen. Keine Baufirma in Europa, geschweige denn in Österreich besaß das nötige Know-how.
Seither hat sich viel getan. Führend dabei ist die Schweiz, genauer der Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) Digitale Fabrikation, der 2014 lanciert wurde und an dem fünf Hochschulen, die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) und viele Industriepartner beteiligt sind. Zunächst mag das überraschen, ist die Schweizer Architektur doch eher für einfache, aber kraftvolle Geometrien, den feinfühligen Umgang mit Materialien und qualitätsvolles Handwerk bekannt. Freiformen hatten bis anhin – anders als in Österreich – nie Konjunktur. Aber der politische Wille, die Digitalisierung der Baubranche voranzubringen, ist stark in der Schweiz, und auch die nötigen finanziellen Mittel sind vorhanden.
Ich habe mir das Arch_Tec_Lab in Zürich, das Forschungslabor des NFS Digitale Fabrikation, von Russell Loveridge zeigen lassen. Schon der Bau ist eine Demonstration der Leistungsfähigkeit und Innovationskraft der Schweizer Forschung und Bauwirtschaft. Seit 2016 arbeiten dort rund 60 Experten aus verschiedenen Disziplinen. Das Gebäude wurde parametrisch entworfen. Sein schwungvolles Holzdach besteht aus 50.000 Latten, die von Robotern in der Fabrik der Firma Erne Holzbau, Industriepartnerin des NFS Digitale Fabrikation, zusammengenagelt wurden. Die Verbindungspunkte sind derart komplex, dass Planung und Umsetzung nur durch die Kombination von einem parametrischen Modell und präziser robotischer Fertigung möglich waren.
Herzstück des Arch_Tec_Lab ist das Robotiklabor. Die Halle bietet genug Platz, um Prototypen und kleinere Gebäude im Maßstab 1:1 zu errichten. Neben fest installierten Robotern auf Kranbahnen gibt es auch eine mobile Einheit, die auf der Baustelle eingesetzt werden kann. Hier werden robotische Fertigungsverfahren getestet, Forscher experimentieren mit neuen Materialien.
Neuestes Ergebnis dieser Arbeit ist ein Pavillon am Sitz von Basler & Hofmann in Esslingen im Kanton Zürich. Die Holzkonstruktion wurde von Gramazio Kohler Research, dem Lehrstuhl für Architektur und Digitale Fabrikation der ETH Zürich, parametrisch entworfen. Gebaut wurde sie wiederum von Erne, Roboter sägten, bohrten und montierten die einzelnen Holzstangen. Die ganze Konstruktion ruht auf einer eleganten Betonstütze, die am NFS Digitale Fabrikation gestaltet wurde. Auf Basis des 3D-Modells wurde eine 1,5 Millimeter dünne Schalung gedruckt. Unter dem Druck gewöhnlichen Frischbetons wäre sie sofort geborsten. Also entwickelte man zusammen mit dem Lehrstuhl für Physikalische Chemie von Baumaterialien der ETHZ einen neuen Spezialbeton, der sich durch eine extrem hohe Frühfestigkeit auszeichnet. Die Schalung kann nach der Verwendung eingeschmolzen und ihr Material wiederverwendet werden.
Ob Roboter auch auf der Baustelle eingesetzt werden können, möchte ich von Loveridge wissen. Er erklärt, dass dies ob der rauen Bedingungen eine Herausforderung ist. Oft ist es dort kalt und feucht, auch die Versorgung der Roboter mit Energie gestaltet sich zuweilen schwierig. Zudem ist ihre Orientierung im Raum problematisch, denn Baustellen sind für gewöhnlich nicht aufgeräumt und mit Referenzpunkten versehen wie Fabriken oder Labors. Loveridge schätzt, dass es noch Jahre dauern wird, ehe Roboter on-site arbeiten werden. Erfolgreiche Tests wurden aber schon durchgeführt: Ein Roboter montierte etwa die Bewehrung einer mehrfach gekrümmten Wand der experimentellen Wohneinheit DFAB HOUSE in Dübendorf bei Zürich. Das DFAB HOUSE ist ein Modul am Forschungsbau NEST und dient der Erprobung neuer Fertigungstechniken und Baustoffe. Inzwischen sind zu Testzwecken Studierende eingezogen. Von überall her kommen Delegationen aus Forschung und Industrie, um die Anlage zu inspizieren.
China ist heute im Begriff, bei der Digitalisierung die Weltspitze zu übernehmen. 2017 kamen die meisten einschlägigen Publikationen aus dem Reich der Mitte. Und schon 2016 warnte ein US-Regierungsbericht, chinesische Forscher würden mehr über das Deep Learning veröffentlichen als amerikanische. Wie aber sieht es beim Einsatz digitaler Technologien in der Bauwirtschaft aus? Ich frage Loveridge nach seiner Einschätzung, der Kanadier kennt China gut und hat dort gearbeitet. »Ich denke, wir sind noch einige Jahre voraus«, meint er und fügt nachdenklich an: »Aber unser Vorsprung wird kleiner. In Stuttgart wird gerade ein großes Forschungszentrum aufgebaut, wir sind als Berater involviert. Die Chinesen holen rasch auf. Sie haben enorme finanzielle und personelle Mittel.« In der Schweiz und Europa wird man auch künftig hart arbeiten müssen, um den Lead bei der Entwicklung digitaler Technologien für die Architektur nicht abzugeben.
Die Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS) sind vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierte, disziplinübergreifende Forschungsnetzwerke. Sie fördern Forschung in Bereichen von strategischer Bedeutung für die Zukunft der Schweizer Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Der NFS Digitale Fabrikation wurde an der ETH Zürich initiiert.
Weitere Partnerinstitutionen sind die EPF Lausanne, die Hochschule für Technik Rapperswil, die Hochschule Luzern, die Berner Fachhochschule sowie die Empa.
Ziel ist, die Architektur durch die nahtlose Verknüpfung digitaler Technologien mit dem physischen Bauprozess zu revolutionieren. Um das Potenzial der digitalen Fabrikation voll auszuschöpfen, arbeiten im NFS Digitale Fabrikation sechs verschiedene Disziplinen zusammen: Architektur, Tragwerksentwurf, Materialwissenschaft, Informatik, Regelungstechnik und Robotik.
Veröffentlicht am 20. April 2020
Elias Baumgarten, PSA Publishers Ltd.