Städte befinden sich im Umbruch: Megatrends wie Digitalisierung, Klimawandel oder Mobilitätswende, aber auch Disruptionen wie die Corona-Pandemie haben immense (räumliche) Auswirkungen. Die Folgen sind der Verlust von Umsatz, Arbeitsplätzen, Image, Lebensqualität bis hin zu Leerständen. Viele Raumnutzungen laufen Gefahr, obsolet zu werden.
Wie können aus den Herausforderungen Chancen für eine nachhaltige Transformation generiert werden? Darüber sprechen wir mit Constantin Alexander, Nachhaltigkeitsberater und Forscher für nachhaltige Stadtentwicklung an der Leuphana Universität Lüneburg und Teammitglied des von der Robert Bosch Stiftung geförderten Forschungsprojekts „Obsolete Stadt“.
Kurz gesagt untersuchte das aus einem Hackathon der Robert-Bosch-Stiftung hervorgegangene transdisziplinäre Forschungsprojekt „Obsolete Stadt“, welche Flächen einer Stadt dem Risiko unterliegen, in ihrer ursprünglichen Funktion beziehungsweise Funktionalität unbrauchbar, also obsolet zu werden. Um das Transformationspotenzial dieser Flächen sichtbar zu machen, wurden verschiedene Großstädte untersucht und dafür positive, nachhaltige Anpassungsmaßnahmen entwickelt.
Wir erleben das Ende der auf vermeintlich ewiges Wachstum ausgerichteten Immobilienwirtschaft bei gleichzeitigem gesellschaftlichem Wandel, von der Digitalisierung und Mobilitätswende bis hin zu einem Wandel der Religiosität, der sich auf die Nutzungsstrukturen urbaner Gefüge auswirkt. Als Konsequenz sind Strukturen und Raumnutzungen in den Städten mit einem zum Teil sehr hohen Risiko konfrontiert, obsolet zu werden – sowohl Immobilien selbst als auch immaterielle Strukturen und Prozesse wie Geschäftsmodelle: Fabriken, Einkaufszentren, Parkhäuser oder Kinokomplexe – um nur ein paar Beispiele zu nennen – erleben eine radikale Neubewertung hinsichtlich ihrer Funktionalität und ihrer Produktivität.
Anstatt diese Flächen der Spekulation zu überlassen, begreifen wir diese Obsoleszenzen aus ökonomischer und räumlicher Sicht als Chance für eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung. Aus marktwirtschaftlicher Sicht sind Nutzungsänderungen nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil: Altes macht Platz für Neues, vielleicht sogar Besseres. Denken wir nur an die Konversion aus Hafen- und Bahnflächen, die kommenden freiwerdenden Mobilitätsflächen aus der Verkehrswende oder das Potenzial von Friedhöfen als Flächen für Freizeit und Erholung.
Shareholder und Stakeholder müssen mit diesem Risiko aktiv umgehen und konkrete Taktiken und Strategien für eine aktive Obsoleszenz-Risiko-Analyse und ein Obsoleszenz-Transformations-Management entwickeln. Für diese Analyse wurde im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes eine Methode entwickelt: der sogenannte Obsoleszenz-Risiko-Index.
Um Obsoleszenz zu messen, bedarf es einer Analyse des Raumes auf Basis von quantifizierbaren Parametern. Solch eine Untersuchung ist außerdem abhängig vom Framing der Fragestellung, der Perspektive und auch einem eventuellen Ziel oder Zweck.
Aus der ökonomisch-politischen Perspektive sind es drei Faktoren, die zu einer Obsoleszenz führen:
Während eine Funktion oder Nutzung durch Umbauten, Zwischennutzungen und Wiederverwertung gelöst werden kann, ist der Wegfall der mereologischen Integration schwieriger zu quantifizieren. Nehmen wir zum Beispiel den nicht messbaren Aspekt der Baukultur. Diese macht was unterbewusst mit uns, wenn aber der kulturelle Wert verloren geht, fällt das Bauwerk aus dem Raster. Gleiches gilt für das nicht mehr genutzte Kirchengebäude, das keine systemische Integration mehr ermöglicht.
Im Sinne einer ganzheitlichen Risiko-Analyse bedarf es der Identifikation von konkreten Parametern, die in Beziehung zu dem untersuchten Objekt gesetzt werden. Für die Definition des Obsoleszenz-Risikos und die Entscheidung, eine Fläche oder Flächenkategorie danach zu bewerten und einzuordnen, liegen sehr viele qualitative und quantitative Informationen vor. Daher ist es interessant, die Raumwirksamkeiten zu kartieren und damit die Risiken zu zeigen. In den untersuchten Städten Hamburg und Hannover wurden die Raumnutzungen kartiert, die von den Megatrends Digitalisierung (von Handel und Arbeit), Mobilitätswandel sowie Religiositätswandel betroffen sind. Das sind konkret: Einzelhandel, Waren- und Kaufhäuser, Einkaufszentren, Supermärkte, Bürokomplexe, großflächiger Parkraum, Parkhäuser (unter- und oberirdisch), Autohäuser und Kfz-Werkstätten, Automobilindustrie und Zulieferer sowie Friedhöfe, Kirchen und Kapellen.
Am Beispiel von Hamburg sieht man, dass das, was der größte Identifikationsfaktor der Stadt ist, der Hafen, zugleich ein hohes Obsoleszenz-Risiko hat. Der Ausbau der HafenCity, die Etablierung der HafenCity-Universität und zuletzt der kolportierte Verkauf von Hafenterminals an private Investoren zeigt die Dynamik der Veränderungen auf. Oder denken wir an Duisburg, das immer noch als industrielles Zentrum den größten Binnenhafen Europas besitzt. Was passiert mit der Stadt, wenn der Change Richtung klimaneutralisiertem Stahl bei ThyssenKrupp nicht erfolgreich ist? Oder das Beispiel Stuttgart, dessen Zulieferindustrie für die Automobilbranche sich radikal verändert – welche Auswirkung hat das für die Entwicklung der Stadt?
Die Menge an potenziell obsoleten Räumen zeigt die Relevanz des Themas. Nicht alle Raumnutzungen werden kurzfristig leer stehen, aber aufgrund der mehrdimensionalen Krisen muss von einem sogenannten Klumpenrisiko ausgegangen werden: Wenn ähnliche Raumnutzungen in geografischer Nähe liegen, können Abwertung und Leerstand ansteckend wirken. Es braucht also einen strategischen Umgang mit diesen Risiken, um diese Entwicklung als Chance wahrzunehmen und die (drohende) Obsoleszenz von Raumnutzungen für einen nachhaltigen Umbau unserer Städte zu nutzen.
Damit eine Struktur, Prozess oder Entität transformiert werden kann, müssen aus Sicht der verantwortlichen Shareholder drei Aspekte erfüllt sein:
Auf dieser Basis entscheiden Eigentümer, ob sie eine obsolete Immobilie verkaufen, ob sie die Nutzung anpassen, ob sie eine echte Nutzungsänderung anstreben oder ob sie die Immobilie strategisch verfallen lassen, um so beispielsweise steuerliche Begünstigungen zu nutzen. Das Identifizieren von Obsoleszenz-Risiken und (potenziellen) Produktivitätsverlusten kann ein wichtiges Instrument zugunsten der Gestaltung der urbanen Transformation sein. Aus regulatorischer Sicht wird die Umsetzung der EU-Taxonomie und der damit verbundenen Verpflichtung, ESG-Kriterien in der Bilanzierung aufzuführen, ein Treiber sein. Zeit für alle, die Krise zu nutzen, um durch strategische Anpassungen den Grundstein für eine nachhaltige Zukunft zu legen.
Constantin Alexander ist Politikwissenschaftler und Nachhaltigkeitsökonom. Er unterrichtet forscht und promoviert am Institut für Soziologie und Kulturorganisation (ISKO) an der Leuphana Universität Lüneburg zum nachhaltigen Wandel von komplexen Systemen. Als Senior Consultant bei diffferent in Berlin berät er Unternehmen und Organisationen im Bereich Nachhaltigkeit und Kommunikation. Dort leitet er auch das s.g. Skill Hub Sustainability Management.